Die VVN-BDA Nürnberg hat heute eine Gedenkveranstaltung zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz organisiert. Wir wurden auch eingeladen, eine Rede zu halten. Herzlichen Dank an Rüdiger Löster für die Fotos. Unsere heutige Rede, in der wir unter anderem zur antifaschistischen Einheitsfront aufgerufen und die nationalistische Art des Gedenkens kritisiert haben, könnt ihr unten nachlesen.
Liebe Freunde und Freundinnen, liebe Genossen und Genossinnen, liebe Antifaschisten und Antifaschistinnen,
Ich wurde vor etwa einem Jahr von meinem Genossen Georg von der VVN-BDA eingeladen, heute eine Rede zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus zu halten. Ich hatte also lange Zeit, mir zu überlegen, was für mich und für meinen Verband, die Falken, Gedenken eigentlich bedeutet. Warum gedenken wir? Ein Sozialphilsoph und Kommunist hat dazu einst geschrieben:
„Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe.“
Daraus leitet sich ab, dass wir – auch im Stande unserer Unfreiheit in der kapitalistischen Gesellschaft – eine spezifische Verantwortung haben, die sich aus dem Geschehenen, aus Auschwitz ableitet. Gedenken bedeutet also für uns, aus dem Geschehenen eine Verantwortung für heute zu übernehmen. Wie und woraus leiten wir sie aber konkret als junge Sozialisten und Sozialistinnen ab?
Wir leiten unsere Verantwortung nicht aus den Taten unserer Groß- oder Urgroßeltern ab. Ebenso wenig leiten wir sie aus der Tatsache ab, dass die meisten von uns Deutsche sind oder dass wir in Deutschland leben. Heute versucht der Staat, uns einzugemeinden durch die vermeintlich kollektiv geteilte Verantwortung aller Deutschen. Das führt so weit, dass die neue, staatlich forcierte nationale Identität über ein Bekenntnis zur Schuld hergestellt werden soll. Das Holocaust-Mahnmal in Berlin – von dem Gerhard Schröder sich wünschte, dass man gerne hingeht – steht dafür exemplarisch. Diese nationale Sinnstiftung lehnen wir ab, denn aus ihr ist keine Lehre und keine Erkenntnis für heute zu ziehen.
Schlimmer noch, sie macht dumm. Kürzlich fand der Gedenktag zum Jahrestag der Befreiung von Auschwitz im Yad Vashem, der israelischen Gedenkstätte für die Opfer der Shoa, statt. Dort sprachen neben Frank-Walter Steinmeier auch Putin und Netanyahu. Die Rede Steinmeiers enthielt viel richtiges. Empörend falsch waren jedoch die Kommentare von Sabine Müller von der Tagesschau über das angeblich unwürdige Verhalten Israels und Russlands. Ich will meine und unsere Kritik daran kurz ausführen, da Sabine Müller hier womöglich als repräsentative Stimme desjenigen Teils der deutschen Bevölkerung betrachtet werden darf, der sich als geläutert gibt und vorgibt, aus der Geschichte gelernt zu haben. Außerdem will ich damit kurz erläutern, wie Gedenken nicht sein darf.
Sabine Müller warf den Staatsvertretern Netanyahu und Putin vor, sie hätten im Yad Vashem ihre „eigene erinnerungspolitische Privatparty“ gefeiert. Und zwar unter anderem dadurch, dass sie sich erdreistet hätten, in Jerusalem ein Denkmal zur Erinnerung an die Belagerung Leningrads einzuweihen. Die Belagerung Leningrads, bei der die deutsche Wehrmacht die zivile Bevölkerung systematisch verhungern ließ und der 1,1 Millionen Sowjetbürger zum Opfer fielen, steht symbolisch für die deutsche Vernichtungspolitik im Osten, die zutiefst von Antisemitismus, Rassismus und Antikommunismus geprägt ist. Es steht niemandem, schon gar nicht einer Vertreterin des deutschen öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu, das Gedenken daran als „erinnerungspolitische Privatparty“ zu verunglimpfen.
Sabine Müller erdreistete sich sogar, Israel und Russland vorzuwerfen, den Gedenktag zu kapern. Ihre Begriffswahl und ihr gleichzeitiges Lob auf die Rede des deutschen Bundespräsidenten legen nahe, dass das Gedenken an den Holocaust in deutsches Eigentum übergegangen ist. Sie vermittelt damit: Wir Deutschen haben seit Jahrzehnten fleißig aufgearbeitet, das ist jetzt unser Jahrestag, den wir uns nicht von den Russen und den Israelis einfach kapern lassen. Ein solcher Umgang mit Gedenken ist nationalistisch und versucht, nationalen und moralischen Mehrwert aus dem Nationalsozialismus zu schöpfen. Das kritisieren wir ausdrücklich.
Für uns als junge Sozialist*innen erfolgt die Verantwortung aus dem Geschehenen, uns gegen Faschismus und Nationalsozialismus einzusetzen, weil wir ein konkretes Interesse daran haben. Wir wollen den Faschisten etwas entgegensetzen, weil wir wissen, dass unsere Lebens-, Arbeits- und Kampfbedingungen in einer bürgerlichen Demokratie bei allen Zumutungen denen in einer faschistischen Volksgemeinschaft vorzuziehen sind.
Wir bekämpfen die Faschisten nicht, weil sie der Reputation Deutschlands in der Welt schaden, sondern weil sie uns und unsere durch Flucht und Exil zu Klassenbrüdern und -schwestern gemachten Kollegen und Kolleginnen, die wir im Klassenkampf auf unserer Seite brauchen, gegen uns ausspielen, abschieben oder ermorden wollen. Weil sie die uns so verhasste Konkurrenz zur Biologie erklären und die Menschen aussortieren wollen, die anders aussehen, anders denken, anders fühlen als die Mehrheit der Menschen.
Wir bekämpfen die Faschisten nicht, weil wir uns als mündige Staatsbürger dazu berufen fühlen, sondern weil sie unsere feministische Emanzipation und die eng gesteckten, erkämpften Freiheitsbereiche für Frauen und Mädchen zurückdrängen wollen und Männlichkeit nur als Synonym für Herrschaft, Härte und Unterwerfung denken können und sie damit eine ganz konkrete Bedrohung für alle Geschlechter sind.
Und wir stellen uns gegen die Nationalisten, weil diese uns und unsere Pläne für ein friedliches, freies, gerechtes und sicheres Leben angreifen – verbal, körperlich, mit Gesetzen, auf der Straße und in den Parlamenten.
Dieses freie, sichere, gerechte, friedliche Leben, das wir anstreben, is allerdings auch im real existierenden Kapitalismus heute und jetzt nicht gegeben. Sehr viele Menschen in diesem Land können sich nicht sicher sein, dass der Arbeitsplatz und damit die Lebensgrundlage langfristig behalten, die Miete weiterhin bezahlt, die Strom- oder Gasrechnung beglichen werden kann. Viele von uns wissen nicht, ob sie nicht in Kürze in einen Abschiebeflieger gepackt und womöglich vom neuen Albrecht-Dürer-Abschiebeflughafen in Krieg und Elend geschickt werden. Die Meisten wissen nicht, woher sie die Zeit nehmen sollen, um mit ihren Kindern zu spielen, weil ein Job allein längst nicht mehr zum Leben reicht. Oder sich mit Freunden treffen. Oder entspannen.
Staat, Nation und Kapitalismus herrschen fort – in all ihrer Brutalität. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren genau das die gesellschaftlichen Voraussetzungen für den Nationalsozialismus. An diesen Grundvoraussetzungen hat sich bis heute nichts geändert. Es kann also wieder geschehen, was geschah.
Diese Grundvoraussetzungen – die wirtschaftliche Einrichtung unserer Gesellschaft und ihr zugehöriger Staat – mit ihren Unsicherheiten und ihrem Krisenpotenzial schlagen sich in den Einzelnen nieder. Die Menschen werden geprägt von bürgerlicher Kälte. Gefangen in dem bürokratisierten Hauen und Stechen unserer total verwalteten Konkurrenzgesellschaft machen sie sich – und da kann auch ich mich nicht ausnehmen – kalt gegeneinander. Wie sollte man sonst mit den alltäglichen Schreckensnachrichten umgehen, die wir in der patriarchalen Konkurrenzwelt erleben müssen. Wir werden kalt, um nicht an der Trauer und den Verletzungen zugrunde zu gehen.
Die Nationalisten und Faschisten treiben diese psychische Grundverfasstheit der Menschen im Kapitalismus auf ihre menschenverachtende Spitze. Sie rotten sich zusammen, nicht um die Kälte zu beseitigen, sondern um sie zu verherrlichen und in mörderischem Zynismus an anderen abzureagieren.
Sie sind für Erfahrungen nicht mehr zugänglich, schaffen ihre eigene, falsche Wahrheit und sind überzeugt, im Recht zu sein. Selbst das bestialische Sterben ist ihnen ein Fest. Sie verdrängen das Sterben von Menschen nicht mehr nur, sondern zelebrieren und feiern es: „Absaufen!“ Sie sind selbsterklärte Feinde der Menschlichkeit.
Die Feinde der Menschlichkeit von 1933 waren auch nach 1945 – bis auf verhältnismäßig wenige Ausnahmen – nicht verschwunden. Die Mörder und ihre Unterstützer*innen lebten zu großen Teilen weiter, oft in hohen Positionen in der Bundesrepublik, bis sie friedlich einschliefen. Eine Entnazifizierung, die ihren Namen verdient, fand nicht statt. Im Gegenteil: In der Bundesrepublik wurden die alten Nazis nicht nur zum Personal vieler staatlicher Einrichtungen, sondern auch zu den Architekten dieser Institutionen. Beim Verfassungsschutz – dessen Abschaffung mehr als überfällig ist – waren maßgeblich ehemalige Mitglieder der Gestapo, der SS und des nationalsozialistischen Sicherheitsdienstes tätig. Der erste Präsident des Verfassungsschutzes, Hubert Schrübbers, war zuvor erst SA-, später SS-Mitglied und nationalsozialistischer Staatsanwalt. Seine Institution sorgte in antikommunistischen Furor mit dafür, dass 1956 wieder Kommunist*innen und Antifaschist*innen in deutschen Gefängnissen saßen.
Die alten Nazis sind größtenteils tot. Die institutionelle Architektur, die sie geschaffen haben, besteht fort. Der Verfassungsschutz ist nicht reformierbar, er muss als antidemokratisches Erbe des Nationalsozialismus abgeschafft werden.
Ausgerechnet für heute haben die CSU Langwasser und Marcus König den kürzlich aus dem Amt entfernten Verfassungsschutzpräsidenten Hans Georg Maaßen eingeladen. Er ist als Rechtsextremist einer der selbsterklärten Feinde der Menschlichkeit. Er vertritt eine obskure Extremismusdoktrin. Diejenigen, die sich dem Faschismus und dem Rechtsruck entgegenstellen sind nach dieser wahnhaften Extremismustheorie ebenso gefährlich für Demokratie und Freiheit, wie diejenigen, die eine autoritäre Diktatur errichten wollen, die Angriffe verüben auf Sozialdemokrat*innen (man denke an den Anschlag auf Karamba Diaby in Halle), auf Juden und Jüdinnen (man denke an den Mordanschlag auf die Synagoge in Halle), auf Geflüchtete, Kommunist*innen und Andersdenkende.
Nach diesen Vorstellungen hat sich die Rote Armee, indem sie vor 75 Jahren Auschwitz befreit hat, damit ebenso schuldig gemacht, wie die deutsche Armee und die SS. Pfui teufel zu einem solchen revisionistischen Gerede. Und pfui teufel an diejenigen, die einen Tag vor dem Tag der Befreiung vom Faschismus einem führenden Rechtsextremisten und Lügenbaron wie Hans-Georg Maaßen eine Bühne schenken.
Was aber brauchen wir, um die stets verharmlosten, aber brandgefährlichen Faschisten in diesem zu Land zu bekämpfen, die sich auf den Tag X vorbereiten und bereits Waffen, Leichensäcke, Namen und Adressen von politischen Gegnern sammeln?
Wir müssen ihnen den gedanklichen Nachschub abschneiden. Das bedeutet eine konsequente Ächtung von Nazis und der AfD. Wir müssen eine Einheitsfront der antifaschistischen Kräfte schaffen. Das bedeutet, wir müssen darauf hinarbeiten, die Spaltung der klassischen Vertretungen der Arbeiter*innen wo immer möglich zu beenden. Das wird gerade der SPD, der ich an dieser Stelle zum Parteiausschluss von Thilo Sarrazin gratulieren möchte, einiges abverlangen. Sie muss weiterhin und wieder verstärkt auf der Seite der Antifaschist*innen stehen. Unsere Genoss*innen von den Jusos, die während der PEGIDA-Demos in Nürnberg mit viel Durchhaltevermögen Antifa-Arbeit gemacht haben, sind dafür gutes Vorbild. Die SPD darf nicht den Extremismusblödsinn befeuern, sondern diesen Wahn auch als Wahn betrachten. Alle Mitglieder der SPD müssen ihren Einfluss nutzen – bestehe er auch nur darin, einen Brief an Olaf Scholz zu schreiben –, um die drohende Zerschlagung der VVN-BDA zu stoppen. Oder konsequent verhindern, dass die NPD in Nürnberg ihre Propaganda über die Stadtreklame verbreiten kann.
Eine antifaschistische Einheitsfront wird aber auch den sozialistischen Parteien, Verbänden und Gruppen viel abverlangen.
Eine Einheitsfront gegen Faschismus kann es nicht geben, wenn einer Partei und vor allem den einzelnen Mitgliedern permanent Vorwürfe für die Fehler ihrer Partei gemacht werden. Versteht mich richtig: Hartz4 und die Neoliberalisierung der Gesellschaft haben sicherlich dem Faschismus die Chancen verbessert, etwa weil sie mit ihrer Lüge der Alternativlosigkeit und ihrem Antisozialismus den Menschen nur mehr die Verschlimmerung, Extremisierung des ohnehin Bestehenden als Alternative lässt. Die AfD nennt sich ja gerade deshalb Alternative, weil sie weiß, dass die Mehrheit der Menschen eine Alternative zum Kapitalismus sucht. Sie ist jedoch ebenso wenig Alternative wie ihr nationalsozalistischer Flügel sozialistisch ist.
Ja, es stimmt, die Neoliberalisierung der Gesellschaft wurde maßgeblich von der SPD politisch umgesetzt. Das Vertrauen ist also verständlicherweise erschüttert.
Wir als Sozialist*innen müssen jedoch – zum Zwecke der Einheitsfront gegen Faschismus und gegen die Verschlechterung unserer Situation – neues Vertrauen schenken und uns nicht in Trotz, sondern in Offenheit zeigen. Insbesondere zur Parteibasis, die in der Regel links von ihrer Führung steht, gilt es Brücken aufrechtzuerhalten oder aufzubauen.
Uns wird es sonst ergehen, wie unseren sozialistischen und sozialdemokratischen Klassenbrüdern und -schwestern von 1933, die erst in den Konzentrationslagern wieder vereint waren. Dem gilt es unbedingt zuvorzukommen.
Was also bedeutet Gedenken für uns?
Hitler hat uns als Menschen einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen. Wir müssen verhindern, dass die Menschenfeinde gewinnen, dass sie wieder tun können, was sie tun wollen: Morden, vernichten, beherrschen.
Gedenken heißt nicht nur Betroffenheit, die uns – wenn wir uns mit den Erfahrungen, den Bildern, den Berichten und Schilderungen von Auschwitz befassen – notwendig überkommt. Wir können und wir wollen auch garnicht in dieser Betroffenheit verharren. Wir halten es mit dem Schwur von Buchenwald: Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist und bleibt auch unsere Losung.
Gedenken heißt also Widerstand. Widerstand etwa gegen den bayerischen Verfassungsschutz, der die VVN-BDA als Linksextremisten verunglimpft. Widerstand gegen die daraus resultierenden Versuche, der VVN-BDA die Gemeinnützigkeit zu entziehen. Widerstand gegen die Pläne der AFD, uns Falken und weitere, vielfältige Jugendverbände zu verbieten und so die Jugend im Geiste des Nationalsozialismus gleichzuschalten.
Gedenken heißt nachdenken. Und nachdenken erfordert auch Ruhe. Gedenken heißt für uns also auch zur Ruhe kommen, sich Zeit nehmen und sich der bürgerlichen Kälte zu entziehen. Gedenken heißt deshalb neben dem Kampfe auch, Trauer, Angst und Schmerz zuzulassen.
Und Gedenken heißt für uns auch, das Erbe unserer ermordeten Genossen und Genossinnen anzutreten. Wir wollen ihren Kampf für eine Welt ohne Angst und zwischenmenschliche Kälte fortführen. Daraus erwächst für uns die Pflicht, denen mit allen Mitteln den Garaus zu machen, die diese Kälte bejahen und zur Grundlage ihres Denkens und Handelns machen. Für uns gilt also nach wie vor das Credo von Rosa Luxemburg: „Mensch bleiben, trotz alledem!“
Danke.